Schützenfest mit Artillerie-Zigarren

Von Josef Lange

In diesem Jahr begibt sich das Neusser Artillerie-Corps ins Internet und kann auf stolze 147 Jahre zurückblicken. Im Jahre 1853 trat die Artillerie als viertes Corps im Neusser Schützenregiment in Erscheinung. Die Existenz war nicht unumstritten und das Corps Erlebte einige raue Jahre, aber nachdem es sich 1854 eine Satzung gegeben hatte, blieb es seinen Vorsätzen treu, und das – wenn auch in widrigen Zeiten immer wieder Hindernisse zu überwinden waren – bis in die Gegenwart. Im Folgenden dazu einige Schilderungen zu der mal mehr, mal weniger amüsanten Periode der Frühzeit.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, genauer im Jahre 1851, kamen einige Mitbürger auf die von anderen gar nicht als glorreich angesehene Idee, sich dem Neusser Schützen-Regiment mit grobem Geschütz anzuschließen, das hieß, das Regiment der Grenadiere, Jäger und Reiter um ein so genanntes Artillerie-Corps zu verstärken.

Es geschah – das war schon anderen widerfahren – das Gegenteil von dem, was im Ernstfall bei einer echten Truppe zu geschehen pflegte, wenn Barbarajünger mit ihrem stärkeren und durchschlagskräftigeren Kaliber beistehen wollten:

Das Komitee des Neusser Bürger-Schützen-Vereins lehnte die artilleristische Unterstützung rundweg ab.
Artillerie stand nicht in den Statuten, also war für sie kein Platz im allgemeinen Volksvergnügen.

Was die Männer eigentlich bewogen hat, sich als Artilleristen dem Neusser Schützenregiment anzuschließen, ist nicht überliefert.

Es dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass es sich um eine Initiative von Mitbürgern gehandelt hat, die vordem aktiv bei der Artillerie gedient hatten, mit Geschütz und Pferdebespannung umzugehen verstanden und beim Schützenfest eine Gelegenheit suchten, ihre Anhänglichkeit zur angestammten Waffengattung zu bekunden. Dass es in Neuss noch, wie im Mittelalter, nach wie vor städtische Kanonen gab, mit denen bei festlichen Gelegenheiten, auch beim Schützenfest und bei Besuchen hoher Persönlichkeiten, friedlich Salut geschossen wurde, könnte vielleicht einen weiteren Anreiz gegeben haben.

Die Männer der schwarzen Waffenfarbe blieben vorläufig unter sich, auch 1852 noch. Aber sie hielten ihr Pulver trocken und betrieben eine ausgiebige Öffentlichkeitsarbeit, wie man heute sagt, sie ließen keine Gelegenheit aus, sich im Neusser Kreis-, Handels- und Intelligenzblatt zu Wort zu melden, und sie hatten offensichtlich auch Freunde, und zwar zahlungskräftige. Besonders gereizt haben muss das Komitee, dass die Väter der artilleristischen Szene sich in Zeitungsanzeigen forsch als „fünftes Corps“ bezeichneten und damit deutlich zu verstehen gaben, dass sie die Schützengilde, die 1850 entstanden war und sich – ebenfalls vergeblich – Hoffnung auf eine Teilnahme beim Schützenfest gemacht hatte, als das vierte Corps betrachteten und seine Zulassung wie selbstverständlich voraussetzten.

Es muss dem Komitee die Zornesröte ins Gesicht getrieben haben, dass sich dann auch noch ein „Corps der Hahnenkämpfer“ als sechstes Corps in der Zeitung vorstellte. Jedenfalls lasst diese Zumutung den Verdacht zu, dass damals eine ganze Rotte von Reckeliesern und Schikanösessen am Werk gewesen sein muss. Apropos „Hahnenkämpfer“ – den Verein hat es tatsächlich gegeben. Er feierte auf der Zitadelle im Schatten des Windmühlenturmes sein Fest, den „Citaadelleer Hahnenkampf“, bei dem man Unmengen von gebratenen Hähnchen und Hühner zu vertilgen pflegte.

1853 erschien es dem Komitee ratsam einzulenken, und mit einem Mal erfuhr die staunende Öffentlichkeit wieder durch das Intelligenzblättchen, „es freue sich darüber, dass die Artillerie in diesem Jahre mobil gemacht habe und sich an alle Festzüge anschließen werde.“ Alle waren in diesem Jahre in der Tat mobil und fröhlich. Das Korps zog mit vier Geschützen auf und hielt am Dienstag auf dem „Gütchen“ vor dem Obertor einen Artillerieball, den laut Ankündigung namhafte Künstler aus Düsseldorf mit sogenannten „lebenden Bildern“ verschönerten. Der Bürger-Schützen-Verein hatte, wie das früher oft üblich war, ein Ehrenpreisschießen für auswärtige Schützen ausgeschrieben, zu dem 17 auswärtige Gesellschaften erwartet wurden. Vielleicht war das auch der Grund, mit den Artilleristen Burgfrieden zu schließen, um den auswärtigen Gästen den unschönen Anblick schützenbrüderlicher Unfreundlichkeiten zu ersparen. Aber wie das so ist mit der Volksseele: Ausgerechnet beim Krönungsball entstand zwischen einigen Artilleristen und Oberst Hesemann ein handfester Knies, und die Kontrahenten gingen ins Jahr 1854 hinein wieder auf Distanz.

In diesem Jahre blieben beide hart, das Komitee sowohl als auch das Artilleriecorps, und so herrschte zunächst einmal dicke Luft in der Stadt. Das Komitee entwickelte einen bemerkenswerten Eifer und rief die Schützen zu sage und schreibe neun Versammlungen auf, ließ ein neues Schützenzelt errichten und kündigte ein vielseitiges Festprogramm an, das nicht nur aus den üblichen Umzügen und dem gewohnten Programm bestand, sondern auch bereichert werden sollte durch Feuerwerk, lebende Bilder und heitere Singspiele, und wieder durch ein Ehrenpreisschießen für auswärtige Schützen.

Die Artilleristen hatten nicht im Sinn zurückzustehen und ihre Geschütze einzumotten, und strebten mit der gleichen Aktivität dem Schützenfesttermin zu, wobei sie sich bis zum Aufruf steigerten:

„Hin zu jener schönen Stadt, die so wackere Bürger hat, weltbekannt durch Industrie und durch ihre Artillerie ….“

Um allen Bemühungen die Krone aufzusetzen, ließ das Korps ein großformatiges Plakat drucken, auf dem es schwungvoll und weitschweifig sein Schützenfestprogramm vor den teils erbosten, teils amüsierten Neussern ausbreitete. Es musste sich in seinem Standpunkt bestätigt finden, als ein ungenannter „Civis“, ein Mitbürger, im Intelligenzblättchen zur Einigkeit und zur Überwindung der Missverständnisse aufrief: Die Neusser Schützenfeste, schrieb er, „gehören zu den hervorragendsten Festen dieser Art, welche am ganzen Rhein gefeiert werden und zwar in einer Weise, welche von dem innigen Zusammenhalten, von dem kräftigen gesunden Bürgersinne und vor allem von der Gemütlichkeit seiner Teilnehmer aus allen Ständen zeugt….“

Selbst Bürgermeister Michael Frings stellte sich auf die Seite der Artillerie und drückte dem Komitee gegenüber sein Befremden darüber aus, „dass einem Teile des Neusser- Bürger- Schützenvereins die Aufnahme im Zuge als Artillerie-Corps verweigert worden, ohne dass ein Versuch zu einer so vielseitig gewünschten Einigung vorhergegangen sei.“ Er vertraue darauf, schrieb Frings, dass das Komitee dem allseits laut gewordenen Wunsche der Bürgerschaft entspreche und nach reiflicher und ruhiger Erwägung aller Umstände nun in richtiger Erkennung der Tendenz des Schützenfestes, nämlich die Erweckung, Förderung und Befestigung von Bürgersinn und Eintracht,“ die Hand zur Einigung reiche. Für den Fall, dass man sich nicht werde einigen können, bot Michael Frings seine Vermittlung an. Aus dieser Stellungnahme des Bürgermeisters dürfte hervorgehen, dass in der Bürgerschaft durchaus eine Stimmung für die Artillerie bestand.

Aber die Herren im Komitee gaben sich kurz angebunden und reagierten auf Frings Schreiben ziemlich ungehobelt: Sie freuten sich zwar über sein Interesse, schrieben die Herren süffisant zurück, aber sie blieben bei ihrem Beschlusse, dem zufolge der Festzug nur aus Grenadieren, Jägern und Reitern bestehe. Angesichts dieser Haltung verzichtete Frings auf einen weiteren Vermittlungsversuch. „Zu den Akten“ vermerkte er am Rand des Schreibens, „da unter den obwaltenden Umständen die Anreihung eines vierten Corps für Artillerie beim Schützenzuge, ohne das ganze Fest zu gefährden, nicht wohl zu ermöglichen ist.“ In der nächsten Sitzung des Stadtrates erhielt das Komitee die Quittung: Der Stadtrat lehnte den erbetenen Zuschuss zum Schützenfest ab.

Auch in dieser Situation dachten die Artilleristen nicht daran, in die Etappe zu retirieren und abzuprotzen. So erlebten die Neusser und ihre Kirmesgäste Anno 1854 zwei Schützenfeste auf einmal, und es wäre fast ein Wunder gewesen, hätten die Neusser daraus nicht ein doppeltes Vergnügen gemacht.

Weder Bürger-Schützen-Verein noch Artillerie-Corps ließen sich lumpen, jeder suchte den anderen zu übertrumpfen mit Veranstaltungen zum Vergnügen des Volkes, nur in einem Punkte kam das Komitee nicht mehr mit: Die Artilleristen ließen ihren Sieger achtspännig durch die Stadt kutschieren. Am Montagnachmittag hielt das Korps eine eigene Parade, am Abend erfolgte die Ehrung aller Sieger aus den korpseigenen Wettbewerben „mit großer Cour“. Für ihren Nachwuchs veranstalteten die Artilleristen ein eigenes Kinderfest, bei dem die „Artillerie-Kadetten“, wie sie es nannten, mit einem bunten Papierhut erscheinen mussten und um Preise, „geschmackvoll dem kindlichen Alter angemessene Gegenstände“, schießen durften.

Selbst im Einzelhandelssortiment schlug sich das Doppelfest nieder. Die Geschwister Feldhaus in der Klarissenstrasse verkauften nicht nur „Non- Plus- Ultra- Schützenzigarren“, sondern auch „Artillerie-Zigarren“ – vielleicht sogar aus der gleichen Kiste ….

Das Fazit dieses Doppelfestes: Man kam glänzend aneinander vorbei! Und die Sonne schien dazu! Schon nach zwei Tagen musste das Neusser Kreis-, Handels- und Intelligenzblatt gestehen, dass es sich in angenehmer Weise getäuscht habe, und in seiner Schlussbetrachtung schwang es sich zu der Feststellung auf, dass „das diesjährige Fest das glänzendste und zahlreichst besuchte war, welches Neuss je gegangen hat. Beide Vereine, zwar getrennt in ihrem Auftreten, aber einig in dem Bestreben, ein der Stadt zur Ehre, den Einheimischen wie Fremden zur Freude gereichendes Fest zu veranstalten, hätten ihre Aufgabe vorkommen und in einer Weise gelöst, welche unseren besten Dank verdient.“

Soweit der Berichterstatter, der sichtlich beruhigend zu wirken versuchte, denn vor dem Fest war nach dem Bericht eines Chronisten die Stimmung in der Neusser Bevölkerung so spannungsgeladen, ja so feindlich, dass der Vater gegen Sohn und Bruder gegen Bruder standen, dass sogar das zarte Geschlecht in den unseligen Zank hineingerissen wurde und -; wörtlich – „die intimsten Freundschaften, die innigsten Familienbande und die zärtlichsten Liebesverhältnisse“ in die Brüche gingen.

Und das alles wegen einiger Kirmeskanonen.

Dazu sangen die Artilleristen – das sie hatten schon ein eigenes Liederbuch – ihre Trutzlieder nach dem Motto: „Protz ab, protz ab, o Artillerie, Chargier, gib Feuer und werfe die, die sich verhöhnen wollen“. Das waren Zeiten! Und das im Städtchen mit seinen 9000 Einwohnern.

Das Silberjubiläum 1879 wollte das Corps, obwohl knapp bei Kasse, nicht sang- und klanglos vorübergehen lassen. Chef Jean Pothen, seines Zeichen Gerichtsvollzieher, und sein Adjutant Louis Dresen, bekannter Neusser Nähmaschinenfabrikant, besorgten in Düsseldorf bei dortiger „echten Kameraden“ leihweise Geschütze und Musik, und auf der Festwiese erlebte das staunende Volk einen Sturmangriff der vereinigten Grenadiere, Jäger und Artilleristen, die, wie das früher vielfach üblich war, ein festungsartiges Gebilde mit viel Theaterdonner belagerten und selbstverständlich eroberten. Das Komitee honorierte das Jubiläum freiwillig 100 Mark und übernahm auch noch das Defizit von 90 Mark. Ihren durchaus friedlichen Charakter unterstrichen die Babarajünger zum Jahreswechsel, indem sie zu einer weihnachtlichen Feier mit „Aufstellung eines brillanten Christbaumes“ einluden; Christbaum-Aufstellen, ein Brauch, der dazumal im Rheinland noch nicht weit verbreitet war und für Vereine daher eine zugkräftige Attraktion bedeutete.

Glanzvoller wurde das 50jährige Bestehen 1904 begangen, als Fabrikdirektor Hermann Petersen von den Neusser Margarine-Werken an der Further Strasse als Chef und als Adjutant der Restaurateur Willy Neidhöfer aus der Bahnstrasse dem Corps voranritten. Die Siegerehrung, drei Wochen nach dem Schützenfest noch „en kleen Kirmes“ für den Wirt Josef Baumeister aus der Rheinstrasse, ging im großen Saal de Hotel Pelzer an der Niederstrasse vonstatten, und die festverwachsene Nachbarschaft hatte sogar elektrisch illuminiert, erstmalig für Neuss.

Die 75-Jahr-Feier 1929 sah als Chef den Fuhrunternehmer Josef Hassels an der Spitze, dem als Adjutant Johann Schliebs jun. Zur Seite ritt. Als Vorsitzender amtierte Heinrich Paar. Vor dem Schützenfest geleiteten die Artilleristen ihren Chef vom Hotel Koppenburg an der Krefelder Strasse quer durch die ganze Stadt mit Musik und Fackelbegleitung heim zur Jülicher Strasse. Zum Schützenfest leistete sich das Corps die Krefelder Husarenkapelle in Traditionsuniformen und eine neue Fahne, die im Hochamt geweiht und vor der Parade von Schützenpräsident Cornelius Thywissen enthüllt wurde.

Als 1954 da Hundertjährige anstand, hatte das Artillerie-Corps einen schweren Neuanfang hinter sich; erst vor zwei Jahren hatte es mir 22 Mann unter dem Vorsitzenden Heinrich Paar und unter dem Chef Paul Paar mit einem geliehenen Geschütz, aber noch ohne eigene Musik und in behelfsmäßiger Equipierung wieder Tritt fassen können. 1953 beschaffte ein Freund ein neues, vierspänniges zu ziehendes Geschütz, und 1954 ritt noch einmal Heinrich Paar als Chef dem in alter Friedensform auftretenden Corps voran, das in Ernst Thelen den ersten Corps-Sieger nach 16 Jahren beglückwünschen durfte.

Seit 1956 „hallt“ es beim Neuss Artillerie-Corps. Wie vordem die „Dynastie Paar“, so nahm jetzt die „Dynastie Hall“ die Zügel in die Hand, nachdem Johann Hall – Sieger 1933, vor 60 Jahren – den Posten des Vorsitzenden und Chefs in einer Person vereinigt hatte, und die Barbarajünger sind nicht schlecht dabei marschiert, geritten und gefahren. Sohn Heinz Hall fungierte ab 1957 als Adjutant, bis er 1961 zum Regimentsoberst avancierte. Ihm folgte Sohn Hans an der Seite des Vaters. Und der Hans wurde schließlich 1968 zum Chef gewählt und bildete mit Adjutant Alfred Schmitz die Spitze bis 1986. In ihrer Zeit brachte die großartige 125-Jahr-Feier 1979 einen Glanzpunkt in der Geschichte des Corps, das alles daran setzte, in immer mehr verbesserter Form, Ausrüstung und Stärke aufzutreten und zu beeindrucken, in den letzten Jahren sogar mit einem sechsspännigen gezogenen Geschütz.

1986 übernahm wieder ein Hall das Kommando, der Enkel Hans-Jürgen Hall, der mit Eckart Schlee als Adjutant ein wohlgefügtes Erbe sicher und zielbewusst in eine gute Zukunft führen will ganz in dem Sinne der ersten Satzung „zur Förderung des Bürgersinnes, zur Hebung und Verherrlichung des altherkömmlichen Neusser Bürger-, Schützen- und Volksfestes sowie zur Belebung des Geistes der Zusammengehörigkeit der Bürger und Bürgersöhne … und des freundschaftlichen Zusammenhaltens der Corps-Mitglieder …

(Quelle: Josef Lange)